Interview
„Der ehrbare Kaufmann springt mir zu kurz.“
Für den Ökonomen und Innovationsforscher Prof. Dietmar Harhoff muss die Vorstellung vom ehrbaren Kaufmann erweitert werden. Ein Gespräch über die Neuinterpretation von Ehrbarkeit, den internationalen Wettlauf der Werte und die Wertschöpfung der Zukunft.
Aggressive Tech-Konzerne und globaler Verdrängungswettbewerb: Wie zeitgemäß ist da noch der Typ des ehrbaren Kaufmanns?
Es ist aktueller denn je, darüber nachzudenken, wie unsere Entscheidungen in Industrie, Handel und Wirtschaft gefällt werden sollten. Das normative Element ist zentral. Ob man das am ehrbaren Kaufmann aufhängen möchte, dahinter setze ich doch einige Fragezeichen.
Was stört Sie am ehrbaren Kaufmann?
Was mir fehlt, ist die Einbeziehung anderer Akteure jenseits des Kaufmanns. Ehrbarkeit, darauf können wir uns einigen. Die Einschränkung auf den ehrbaren Kaufmann aber springt mir zu kurz. Hier verneigen wir uns vielleicht zu sehr vor der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
Von welchen Akteuren sprechen Sie?
Von allen, die innerhalb der Wertschöpfung eines Unternehmens Entscheidungen zu treffen haben, bei denen kurzfristiger Nutzen, also Profit, erzeugt werden kann – jedoch aufgrund sozial verwerflichen oder nicht erwünschten Verhaltens. Nehmen wir das Beispiel Künstliche Intelligenz. Bestimmte Algorithmen können den Datenschutz umgehen und ohne Wissen der Betroffenen und gegen datenschutzrechtliche Vorgaben Informationen aggregieren. Die Möglichkeiten für gesellschaftlich verwerfliches oder ethisch fragwürdiges Verhalten sind durch den Einsatz moderner Technologien stark gestiegen. Insofern sind in puncto Ehrbarkeit alle Akteure einzuschließen, die bei Technologie- und Geschäftsentscheidungen mitreden. Das betrifft den klassischen Entrepreneur oder Manager ebenso wie den Ingenieur oder Programmierer.
Neue Technologien führen also zu einem Neudenken von Ehrbarkeit?
Zu einer erweiterten Vorstellung von Verantwortung, möchte ich sagen. Entscheidungen über Technologien oder Geschäftsmodelle erreichen heute schnell eine gesellschaftliche Dimension, und sie werden von weit mehr Beteiligten gefällt als zu Zeiten der alten Hanse. Schon aufgrund heutiger Teamstrukturen können wir die Ehrbarkeit nicht auf eine einzelne Person begrenzen. Hier ist die ethische Grundhaltung eines Start-up-Gründers, der sein Produkt vor großer Investorenrunde „nach vorne verkaufen möchte“, genauso gefragt wie der Wertekompass eines Designers, der das Produkt täglich programmiert. Insofern plädiere ich für die Erweiterung des Begriffs auf andere Akteure und auf Teams.
Was macht denn diesen mittelalterlichen Begriff heute so wertvoll, dass er sogar erweitert werden sollte?
Weil Ehrbarkeit, so altmodisch das Wort klingt, das Richtige meint: unternehmerisches Handeln verbindlich so auszurichten, dass es auch gesellschaftlich erstrebenswerte Ziele erreicht. Wie sich Ärzte mit dem Eid des Hippokrates auf Grundlagen der medizinischen Ethik beziehen, verpflichten sich die Akteure der Wirtschaft zu ehrbarem Verhalten. Dieses Verhalten wiederum führt zu einem mindestens genauso wichtigen Wert. Und der heißt Vertrauen.
Wer kontrolliert denn die Ehrbarkeit? Sind hier nicht auch die Politik und der Gesetzgeber als Akteure, als Regulativ gefragt?
Natürlich sind Regulierer gefragt. Sie schaffen die Regeln. Denken wir an die EU-Datenschutzgrundverordnung, die die Rechte der Verbraucher an ihren Daten gegenüber der Digitalwirtschaft schützt – und zwar einklagbar. Daran müssen sich dann auch Tech-Riesen wie Amazon, Facebook & Co. halten. Daneben ist Transparenz ein zentrales Thema im Zusammenhang mit ethisch korrektem, also ehrbarem Verhalten. Transparenz macht Verstöße gegen Regulierung, aber auch Selbstverpflichtung und Reputationsmechanismen überprüfbar.
Schauen wir auf die internationale Situation – USA, China, Europa: Müssen wir von einem Wettlauf der Wirtschaftssysteme und damit der Werte sprechen?
Ich denke schon, dass das der Fall ist. Besonders augenfällig ist dies im Bereich der Datenwirtschaft. Hier driften die Vorstellungen stark auseinander. Wir legen in Europa großen Wert auf Privatheit und Datenschutz. Das ist in den USA lange belächelt worden, aber auch dort ist die Skepsis gegenüber den großen Datenunternehmen gewachsen. Das hat zu neuen Gesetzgebungsinitiativen geführt, wie beim Consumer Protection Act in Kalifornien. Die Skepsis gegenüber der Datenwirtschaft macht sich aber auch in der Wettbewerbspolitik bemerkbar – und das auf beiden Seiten des Atlantiks. Das chinesische Modell ist wiederum von einem ganz anderen Verständnis von Individualität und Regierungshandeln geprägt. Zudem strebt China mit großem Einsatz nach Souveränität in allen Bereichen und scheint an gemeinsamen Ansätzen wenig interessiert zu sein. Auch wenn wir nicht alles durch unsere eigene Brille betrachten sollten – ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Social Scoring-Modell in Europa Akzeptanz finden wird. Hier sind die Vorstellungen zu wenig kompatibel. Aber bei uns ist die Diskussion um die Gestaltung des Datenschutzes auch noch lange nicht abgeschlossen, wie sich in der Pandemie gezeigt hat.
Wie erreichen wir größere Kompatibilität? Wie kann man im globalen Wettbewerb ein globales Werteverständnis erzielen?
Indem wir beispielsweise international verbindliche Vorschriften für Datenschutz erarbeiten und in Regulierung umsetzen. Oder in der World Trade Organisation Regeln festlegen, wann und wie Staaten in die Wirtschaft eingreifen dürfen. Das betrifft auch Regeln für ein faires Wettbewerbsverhalten. Im Prinzip haben wir hier in den letzten Jahrzehnten auch einiges erreicht. Diese Konvergenz wurde jedoch durch die Trump-Regierung, aber auch eine in den letzten Jahren offensiver auftretende chinesische Regierung infrage gestellt. Das Ergebnis ist eine Verhärtung des Wettbewerbs zwischen den Systemen. Multilateralismus ist eigentlich das probate Mittel dagegen. Aber daran gibt es momentan Zweifel von verschiedenen Seiten. Das nationale Eigenwohl steht oft wieder im Vordergrund. Statt „Let us grow together” heißt es „Make my own country great again“. Hoffentlich wird die Diskussion durch die neue US-Regierung in andere Bahnen gelenkt.
Was ist Ihre Utopie einer Ökonomie für das 21. Jahrhundert?
Ich glaube, wir hatten uns in früheren Jahrzehnten in der Wirtschaftspolitik, aber auch in den Wirtschaftswissenschaften, sehr darauf verlassen, dass der Markt, vielleicht mit etwas Regulierung versehen, sozial unerwünschtes Verhalten schon in irgendeiner Weise sanktioniert. Dass es also für alle Marktteilnehmer im besten eigenen Interesse ist, sich „ehrbar“ zu verhalten. Allerdings hat die Forschung etliche Zweifel daran genährt. In die Unternehmenspraxis haben Konzepte wie Corporate Social Responsibility Einzug gehalten. Die modernen Varianten von Ehrbarkeit stellen den Schlüssel für ein unternehmerisches Verhalten dar, das über das reine Profitstreben hinaus gesellschaftlich verantwortlich wirkt. Aber Ehrbarkeit muss erweitert interpretiert werden und alle relevanten Stakeholder umfassen. Und sie darf nicht nur reine Selbstverpflichtung sein, sondern sie muss auch messbar sowie durch Regeln, Gesetze, aber auch multilaterale Abkommen stabilisiert werden. Es lohnt sich, an dieser Utopie weiterzuarbeiten. Vielleicht gerade jetzt, da wir uns im Anschluss an die Pandemie dringend stärker mit der globalen Herausforderung des Klimawandels beschäftigen müssen.
Wie sieht für Sie die unternehmerische Wertschöpfung der Zukunft aus? Ist Nachhaltigkeit das neue Kapital?
Wir benötigen neue unternehmerische Wertschöpfung, die mit gesellschaftlichen Zielen in Einklang steht. Diese neue Wertschöpfung wird grün und digital sein – um es plakativ auszudrücken. Grün in dem Sinne, dass tatsächlich wichtige Nachhaltigkeitsziele erreicht werden. Und dabei denke ich nicht nur an den Umweltbereich, sondern an die Gesellschaft im Allgemeinen, die sich perspektivisch auf nachhaltiges, sozial verträgliches Wirtschaften umstellt. Das erreichen wir zum Beispiel, indem wir die sehr leistungsfähige „kapitalistische Maschine“ durch Maßnahmen wie CO2-Bepreisung in eine nachhaltige Richtung lenken und Nachhaltigkeit in den Finanzmärkten belohnen. Wir haben hier auch schon einige Etappenerfolge vorzuweisen. Wenn die Kapitalverfügbarkeit an den Börsen immer mehr von einem nachhaltigen Verhalten abhängig gemacht wird, ist das die richtige Entwicklung. Und Nachhaltigkeit wiederum lässt sich sehr gut mit Digitalisierung bzw. den Effizienzvorteilen digitaler Verfahren kombinieren. Die digitale Transformation bietet viele Chancen für Innovation – und die Covid19-Erfahrung zeigt, dass wir beispielsweise mit virtuellen Konferenzen und Homeoffice auch nachhaltiger wirtschaften können. Einfach wird diese Umstellung aber nicht. Dennoch: grün und digital.
Werte wie Ehrbarkeit, Mäßigung oder Pflichtgefühl könnte man auch als Soft Factors bezeichnen. In den Bilanzsummen von Unternehmen stehen aber harte Fakten. Wie können weiche Werte besser gemessen werden?
Das passiert zum Teil schon. So gibt es viele Investoren, die Unternehmen und Wertpapiere nach solchen weichen Faktoren bewerten. Das ehrbare, sprich nachhaltige, unternehmerische Verhalten wird von den Investoren inzwischen anerkannt, die ihr Kapital bevorzugt in nachhaltigen Titeln anlegen wollen. Indizes wie der EURO STOXX Sustainability bewerten Unternehmen nach wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Grundlagen – sie definieren sozusagen ehrbare Aktientitel, die ich in mein Portfolio aufnehmen kann. Und für die betroffenen Unternehmen fällt dann die Kapitalaufnahme leichter. Aus soften Faktoren werden dann harte Finanzierungsvorteile.
Zur Person
Prof. Dietmar Harhoff gehört zu den weltweit renommiertesten Innovationsforschern. Der Alumnus des McCloy-Programms ist Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb in München und Honorarprofessor für Entrepreneurship und Innovation an der Ludwig-Maximilians-Universität München.